Quelle: PARAplegiker, Mitgliedermagazin der Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland e.V. (FGQ), Ausgabe 2/2019 – Textversion
Aus dem Rollstuhl aufstehen und wieder gehen zu können – eine absolute Sehnsuchtsvorstellung! Paradoxerweise ist diese etwas klischeehafte Betrachtungsweise bei Nichtbehinderten häufiger anzutreffen als bei Betroffenen. Zu diesem Schluss kommt, wer die Berichterstattung über Exoskelette in den Medien kritisch verfolgt.
Unbedarfte Journalisten erliegen der Versuchung, eine „Gelähmter-kann-wieder-laufen“-Geschichte zu schreiben. Dabei ist die Sache weit komplexer. Das weiß jeder Rollstuhlnutzer.
Verschiedene Systeme, verschiedene Ziele
Ein gewisses Niveau auf dem Gebiet der elektronischen Datenverarbeitung, leistungsfähige, kompakte Stromspeicher und Elektromotoren sowie hochfeste Baumaterialien waren unabdingbare Voraussetzungen für die Konstruktion der ersten praxistauglichen Exoskelette. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Anbietern, und neben den Akteuren der ersten Stunde tummeln sich unterdessen etliche Newcomer auf dem Markt. Die strategischen Ansätze der Unternehmen lassen sich in verschiedene Kategorien gliedern.
Es gibt Exoskelette, die quasi autonom laufen. Der mittels gepolsterter Aufnahmeschalen und Klettbändern in ihnen fixierte Proband hat die Hände frei, bedient das System per Display und/oder Joystick und vertraut darauf, dass die Maschine in allen Situationen die Balance wahrt. Diese Geräte sind relativ schwer und klobig, eignen sich aber auch für die Anwendung durch höher gelähmte Nutzer.
Andere Entwickler verfolgten von Anfang an das Ziel, ihre Exoskelette so leicht und kompakt wie möglich zu machen. Mit fortschreitendem Erfolg. Die anfangs noch in Rucksäcken verstaute Elektronik wanderte bei den meisten in eine Art Hüftgürtel, die mittels Klettbändern an der Außenseite von Ober- und Unterschenkel befestigten Motor- oder Batterieeinheiten sind relativ kompakt. Anders als bei den autonom gehenden Systemen ist bei diesem Typ Exoskelett der Gebrauch von Unterarmgehstützen unerlässlich. Die Anbieter dieser Systeme verfolgen unterschiedliche Strategien. Während die einen ihre Produkte als reine Therapieinstrumente für den klinischen Einsatz verstehen, haben andere die Nutzung von Exoskeletten im privaten, häuslichen Umfeld im Blick. Eine klare Trennlinie lässt sich nur bedingt ziehen. Die für die spätere Privatnutzung vorgesehenen Modelle tauchen auch im klinischen Umfeld auf. Die künftigen „Läufer“ trainieren in der Regel ja erst mal mit professioneller Unterstützung durch Physiotherapeuten.
Eine Sonderstellung nimmt das in Japan entwickelte System „HAL“ ein (das Kürzel steht für Hybrid Assisted Limb). Während der Bewegungsablauf herkömmlicher Exoskelette computergeneriert ist und in der Regel durch die Gewichtsverlagerung des Nutzers initiiert wird, nutzt HAL Myofeedback. Sensoren auf der Haut des Anwenders detektieren Impulse, die von HAL in Bewegung umgesetzt werden. Der Gedanke dahinter: Zwar erreichen die vom Gehirn ausgesandten Bewegungsimpulse die adressierten Muskeln wegen des geschädigten Rückenmarks gar nicht oder nur unvollständig, sie lassen sich aber auf der Haut messen, interpretieren und verstärken. HAL ist deshalb ein reines Therapiegerät. Zielsetzung ist, Restfunktionen wieder „aufzutrainieren“. Das setzt freilich voraus, dass solche Funktionen vorhanden sein müssen. Der Einsatz von HAL kommt deshalb nur in Betracht, wenn in Voruntersuchungen die Eignung des Probanden festgestellt wird.
Laufen hat nicht erste Priorität
Die Berichterstattung der Medien über die mit diesen Systemen trainierenden Probanden ist in aller Regel geprägt vom Eindruck des ersten Augenscheins: Der vorher auf den Rollstuhl Angewiesene „läuft“. Bei allem Verständnis für den Wunsch, das vermeintlich Offensichtliche als spektakulären Erfolg zu präsentieren, greift diese Betrachtungsweise zu kurz.
Richtig ist: Exoskelette stehen für eine Entwicklung, die Gelähmten neue Perspektiven eröffnet, sowohl auf therapeutischem Gebiet als auch was die praktische Nutzung im Alltag betrifft. Richtig ist aber auch: Exoskelette sind nicht mehr als technisch hochkomplexe Mobilitätshilfen. Ihre Wirkung setzt bei den Folgen der Lähmung an, nicht bei deren Ursachen und kann diese auch nicht heilen. Für potenzielle Nutzer ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu sein. Gehen ist weit mehr als die Fähigkeit, sich auf den eigenen Beinen von A nach B bewegen zu können. Der gesamte menschliche Körper ist von der Natur zur Bewegung in der Vertikalen konzipiert worden. Die Organe erfüllen ihre Funktion optimal, der Stehende hat einen anderen Blickwinkel als der Sitzende, das Knochengerüst wird seiner Funktion gerecht. Und nicht zuletzt ist der aufrechte Gang eine physikalisch hochanspruchsvolle Angelegenheit. Weil das so ist, zeigt der Einsatz von Exoskeletten in der Therapie bei Querschnittgelähmten Effekte, die bedeutsamer sind als der bloße elektromechanisch durchgeführte aufrechte Gang. Probanden berichten von der positiven Auswirkung des Gehtrainings auf die Funktion von Blase und Darm. Sie empfinden das Gehen im Exoskelett als sportliche Herausforderung mit belebendem Effekt. Die Durchblutung ihrer vom Dauersitzen gestressten Haut wird gefördert. Sie genießen es, der Umwelt zeitweise wieder einmal auf Augenhöhe zu begegnen. Stimmen die körperlichen Voraussetzungen, spricht also vieles dafür, zeitweise aus dem Rollstuhl ins Exoskelett zu wechseln.
Nicht für jedermann geeignet
Damit für einen Querschnittgelähmten die Nutzung eines Exoskelettes in Betracht kommt, müssen allerdings spezielle Voraussetzungen gegeben sein, unabhängig davon, ob eine rein therapeutische Anwendung beabsichtigt ist oder die Nutzung im privaten Umfeld. Die Hersteller machen Vorgaben in Bezug auf Körpergewicht und Größe. Kontrakturen und bestimmte Formen von Spastik können Ausschlusskriterien darstellen. Der Proband muss über eine hinlängliche Knochenstabilität verfügen. Für den Gebrauch von Unterarmgehstützen muss die uneingeschränkte Funktion von Schultern, Armen und Händen gegeben sein. All‘ dies schränkt den Kreis der in Frage kommenden Anwender ein. Es ist also keineswegs so, dass die neue Technologie ganz allgemein als temporäre Alternative zum Rollstuhl bewertet werden kann.
Und selbst wenn diese Voraussetzungen stimmen, sind damit nicht alle Hürden genommen. Einstweilen ist die umständliche Handhabung noch eine Schwachstelle. Nutzt man sie in der Therapie, spielt das keine entscheidende Rolle. Gerade die für diesen Einsatzzweck speziell konzipierten Geräte lassen sich relativ rasch auf unterschiedliche Körpermaße justieren. Außerdem erfolgen das Anlegen und Ausziehen mit Assistenz. Bei der Benutzung im privaten Umfeld, als temporäres Substitut für den Rollstuhl, zählen andere Faktoren. Ohne Unterstützung ist der Wechsel zwischen Rollstuhl und Exoskelett zeitaufwendig. Auch wirken sich hier die systembedingten Eigenheiten aus. Der Nutzer ist relativ langsam. Er fällt im Straßenbild auf. Anders als im Rollstuhl kann er kaum Gegenstände transportieren. Exoskelette sind aktuell eben noch eher reine Gehmaschinen als wirkliche Alternativen zum Rollstuhl.
Eine perspektivenreiche Entwicklung
Dennoch oder gerade deshalb lohnt ein Blick in die Zukunft: Die technischen Komponenten werden immer ausgefeilter. Die Entwicklung geht in Richtung immer leichterer, schnellerer Assistenzsysteme.
Exoskelette werden eine zunehmend wichtige Rolle bei der Rehabilitation Querschnittgelähmter spielen. Die Entwicklung steht noch am Anfang, aber das Potenzial ist enorm. Dass realisieren auch die Kostenträger in zunehmendem Maß. Was den klinischen Einsatz und die Übernahme der entsprechenden Kosten angeht, verzeichnen die Anbieter Fortschritte. Geräte in privater Nutzung sind zwar noch rar, aber der Trend geht auch hier dahin, dass Berufsgenossenschaften und Krankenkassen bei entsprechender Diagnosestellung und Prognose kooperieren. Die zurzeit noch exotisch anmutenden High-Tech-Gehmaschinen sind auf dem Weg, eine feste Größe in der Behandlung der Folgen von Querschnittlähmung zu werden.
Autor: Werner Pohl